Ein Markenzeichen von Starke Stimmen: Eigene Arrangements.
Bis auf wenige Ausnahmen werden die Chorsätze für Frauenchor Workshops und die DC VoiceBand von Rainer Stemmermann und weiteren erfahrenen ArrangeurInnen wie Michele Weir (USA), Line Groth (Dänemark: Vocal Line, Postyr Project) und Manuel Grunden (Deutschland: Pop-Up) eigens neu entwickelt.
Seit dem Frühjahr 2017 gibt es darüber hinaus mit dem ScoreLab eine Arrangier-Werkstatt für Nachwuchsarbeit und Erfahrungsaustausch. In der Pilotphase ist es eine kleine Gruppe von DC-Sängerinnen, die hier Lieblingssongs zu mehrstimmigen Chorsätzen ausbaut und sich dabei von Rainer Stemmermann coachen lässt. Einige der Kooperationswerke wurden bereits ins aktuelle Repertoire aufgenommen.
Begegnung im musikalischen Raum
Interview: Martina Weinem
Rainer Stemmermann leitet seit vielen Jahren Chöre verschiedener Stilrichtungen und Leistungsklassen. Das Schreiben eigener Arrangements – anfangs aus Mangel an gut singbaren und ansprechenden Chorsätzen geboren – hat sich dabei im Laufe der Zeit zu einer Leidenschaft entwickelt, die über das reine Notensetzen weit hinausgeht.
Frage: Die DCs singen fast ausschließlich eigene Arrangements. Das ist ungewöhnlich. Und ausgesprochen aufwändig …
Rainer: Ja. In den meisten Arrangements steckt richtig viel Zeit. Gute und komplexe Arrangements brauchen generell viel Zeit, ganz besonders aber, wenn sie auf einen bestimmten Chor zugeschnitten sind. Allein die Festlegung der Tonart geht mit umfangreichen Überlegungen und Versuchen einher.
Frage: Theoretisch kann man aber doch später alles transponieren, oder?
Rainer: Ja, kann man. Aber der Klang ist dann nicht mehr derselbe. Der gesamte Ausdruck und die Energie eines Songs können verloren gehen, wenn er in einer unpassenden Tonart gesungen wird. Darum ist es wichtig, sich für diese Entscheidung am Anfang viel Zeit zu nehmen: Was will ich? Wie soll der Gesamtklang sein? Welche Atmosphäre schaffe ich mit der Festlegung auf diese Tonart?
Frage: Dezidierte Vorüberlegungen dieser Art vermutet man bei Popsongs nicht unbedingt …
Rainer: Weil Popmusik für sich eine gewissen Leichtigkeit und Unkompliziertheit beansprucht. Tatsächlich besteht aber oft ein Widerspruch zwischen der Leichtigkeit, die so ein dreiminütiger Popsong vermittelt und der intensiven, tage- und manchmal nächtelangen Arbeit, bis die Details sitzen.
Frage: Denkst du, dass das Publikum diese Details wahrnimmt?
Rainer: Auf der atmosphärischen Ebene ganz sicher, denn hier spielen sie eine wichtige Rolle. Ich möchte gerne die Wahrnehmung für diesen Detailreichtum öffnen: Für die Schönheit vielschichtiger Harmonien, für die Kraft komplexer Rhythmen, für die Dynamik unterschiedlicher Lautstärken. Da ist so vieles möglich, was aus einem einfachen Song ein intensives Erlebnis macht.
Frage: Ist das dein Anliegen? Intensive Erlebnisse zu schaffen? Für wen?
Rainer: Naja, ich will beim Arrangieren einen Song natürlich so erschließen, dass er möglichst vielen Menschen Freude macht. Und zwar noch mal ganz anders, als wenn man ihn nur im Radio hört. Also arrangiere ich erstmal für die Sängerinnen. Ein Lied muss für sie singbar sein, gut klingen, gute Gefühle hervorrufen. Wenn sie Freude beim Singen haben und das zulassen und leben können, dann wird sich das auch auf das Publikum übertragen.
Frage: Ist es das, was du mit `ehrlicher Musik´ meinst? Dass Sängerinnen und Musiker authentisch sind in dem Moment, wo sie einen Song präsentieren? – Wobei das so ein Modebegriff ist, der leider auch missverstanden werden kann.
Rainer: Ja. Musiker und alle, die darstellend tätig sind, sollen einerseits auf der Bühne kein Programm abspulen, aber natürlich müssen sie ihr Programm gut beherrschen. Das ist die Voraussetzung dafür, um im Moment der Präsentation wirklich präsent sein zu können. Und sich dann in einem nächsten Schritt öffnen zu können für das, was da geschieht. Für Begegnungen untereinander. Begegnung in Klang, Rhythmik, Dynamik. Begegnung auf einer emotionalen und geistigen Ebene, die spirituell und sehr berührend sein kann. Und natürlich für die Begegnung mit dem Publikum.
Frage: Und die Arrangements bieten den Rahmen für diese Begegnungen?
Rainer: Ja. Zumindest für mich ist das so. Ich würde es sogar noch offener ausdrücken: Mit meinen Arrangements möchte ich gerne ein Feld bereiten, in dem sich Menschen musikalisch begegnen können. Ich versuche, ein einfach wirkendes, dennoch intensives Grundmuster so anzulegen, dass es eine bestimmte emotionale Gestimmtheit nahelegt. Als Arrangement ist es natürlich reproduzierbar und kann immer wieder neu mit Leben gefüllt werden
Frage: Nun kenne ich ja einige deiner Arrangements und weiß um die Präzision, mit der du Noten setzt. Wie passt das zusammen mit deinem spontanen Kreieren von Loops und deiner Liebe zur gesanglichen Improvisation?
Rainer: Ich hoffe sehr gut (schmunzelt). Mich für einen mehrstimmigen Loop zu öffnen und darüber zu improvisieren, ist wie eine überraschende Begegnung an einem Zufallsort. Ich höre in mich, was in dem Augenblick gerade da ist, setze es um in Rhythmus und Klang, binde andere Menschen mit ein … es ist, als ob ich kurze Sequenzen aus dem großen Ganzen herausgreife, das sowieso immer da ist. Wie ein kurzer Blick in den Klangkosmos, der uns umgibt. In die Möglichkeiten, die immer da, aber nicht immer hörbar sind. Demgegenüber geht es beim wiederholten Singen eines feststehenden Arrangements darum, es in der Tiefe zu erforschen. Darum werde ich gute Songs auch niemals leid.
Frage: Und nun hast du angefangen, dein Wissen im ScoreLab weiterzugeben.
Rainer: Ja. Es ist interessant herauszufinden, wie andere denken, von wo aus sie auf einen Song zugehen, worauf sie als erstes achten und welche Elemente und Aspekte sie beim Arrangieren betonen wollen. Außerdem gibt es Bedarf an guten Popchor-Arrangements, zu deren Entstehung ich auf diese Art vielleicht ein kleines bisschen beitragen darf. – In der Chorszene findet derzeit ein unglaublicher Wandel statt. Der traditionelle Chor, wie er viele Jahrzehnte gedacht war und gut funktioniert hat, mag sich derzeit in eine Nische zurückziehen, aussterben wird er nicht. Gleichzeitig erlebt der mehrstimmige Gesang in den Sparten Pop/Rock/Jazz/Gospel seit einigen Jahren einen riesigen Boom. Und ich glaube nicht, dass das eine kurzfristige Erscheinung bleibt. Denn die Menschen, die das Singen in einer offenen und wohltuenden Atmosphäre für sich entdeckt und innerlich zutiefst darauf eingelassen haben, spüren, welch riesiges Potential sich ihnen da eröffnet: nicht nur für ihre musikalische, sondern für ihre gesamte persönliche Entwicklung, wenn sie das wollen. Für ihr Gruppenerleben, für ihre Freude. Letztlich: für ihr Lebensglück.
Frage: Singen fürs Lebensglück. Da würde ich gerne noch mal dran anknüpfen. Um das, was jetzt gerade nach Pathos klingt, mit „Beweismaterial“ zu unterfüttern. Ich ahne, dass es dazu bereits spannende wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Aber erst mal herzlichen Dank bis hierher. Ich freue mich auf eine Fortsetzung!
Rainer: Gerne.